Beim Klettern in der Sächsischen Schweiz ist man häufig mit Überfällen beschäftigt. Rauben sich die Sachsen ständig gegenseitig aus oder was ist da los, wird sich der nicht ortskundige Kletterer irritiert fragen. Unter kriminellen Aspekten betrachtet, ist das Ganze absolut harmlos, höchstens kriminell aufregend. Eigentlich ist nur die topografische Beschaffenheit der Sandstein-Gipfel schuld: Diese sind häufig sehr zerklüftet und gespalten und auch auf einem auf den ersten Blick solide wirkenden Gipfel kann sich plötzlich auf dem Weg zur Abseilstelle überraschend eine tiefe Schlucht auftun. Da besagte Schlüchte häufig hindernd zwischen Kletterer und Gipfelbuch, Weiterweg oder der Abseilöse stehen, gibt es verschiedene Strategien, sie möglichst erfolgreich und ohne Schrammen zu überwinden.
Die harmloseste Variante ist der Übertritt. Wie der Name bereits andeutet, haben wir es hier mit einer Gesteinslücke zu tun, die mit einem großen Schritt überbrückt werden kann, wobei dann höchstens die Nerven schlappmachen können. Übertritte konfrontieren in der Sächsischen Schweiz übrigens nicht nur hartgesottene Kletterer, sondern gelegentlich auch nichtsahnende Wanderer, was den Familienfrieden beim Wanderausflug erheblich gefährden kann. Ansonsten ist so ein Übertritt natürlich auch subjektiv und größenabhängig, was insbesondere beim Klettern mit Kindern beachtet werden sollte, die scheinbar harmlose Spreizschritte eher als ausgewachsenen Überfall wahrnehmen. Beim Überfall nämlich erreicht man zwar auch noch mit dem Bein die andere Seite, ist dabei aber so weit gespreizt, dass man ohne Zuhilfenahme der Hände nicht komplett auf der anderen Seite ankommt. Deswegen lässt man sich gleich mit den Händen zuerst an die Wand gegenüber fallen, setzt ein Bein nach und zieht dann den Rest hinüber. Klingt ganz harmlos, oder? Funktioniert allerdings nur, wenn gegenüber so etwas wie eine Wand zu finden ist. Wenn die breite Schlucht auf einer Ebene zu überwinden ist, kommt die Königsdisziplin ins Spiel: der Sprung! Der ist eigentlich selbsterklärend und erfordert sehr viel Mut und Körperbeherrschung. Sprünge der sächsischen Kategorie 4 sind eigentlich unfassbar und verursachen schon beim darüber Nachdenken schweißnasse Handflächen.
Der berühmteste Überfall in der Sächsischen Schweiz ist der auf die Lokomotive. Zum ersten Mal wurde ich in Peter Brunnerts grandiosem Buch „Die spinnen, die Sachsen!“ darauf aufmerksam, da er hier seinen erfolglosen Vorstiegsversuch schilderte. Sehr anschaulich und nachvollziehbar, wie ich fand 😉 Als ich dann Anfang Mai vor besagter Lokomotive stand und Olaf meinte „Und, machen wir jetzt den Überfall auf die Lokomotive?“ wurde aus dem vorher höchstens scherzhaft geäußerten Plan plötzlich Ernst und los ging’s. Einer der limitierenden Faktoren bei diesem Unterfangen ist nämlich ein mutiger Vorsteiger, der am scharfen Ende des Seils da rüberfällt. Wenn sich also jemand dazu bereit erklärt, sollte man als Nachsteiger nicht lange zögern, sondern sich schnell einbinden.
Was gibt es denn nun eigentlich zu tun beim Überfall? Die Lokomotive trägt ihren Namen, weil sie aus der Ferne betrachtet wie eine aussieht. Die Esse ist dabei der höhere vordere Teil. Um vom Mittelteil auf die Esse zu gelangen, gilt es, eine ziemlich breite Kluft zu überwinden. Von unten betrachtet (der Spalt geht bis zum Fuß des Felsens), sieht das nach mindestens 3 Metern aus. Interessierte Zuschauer versicherten uns, dass sie mal mit dem Zollstock nachgemessen hätten und die Überfallstelle exakt 1,72 Meter breit wäre. Andere Schätzungen bewegen sich eher so im Bereich 1,60 Meter.
So oder so – das ist ganz schön viel! Los geht es auf einem formschönen Sandsteinpoller, auf dem man sich vorsichtig mit den Füßen bis ganz an die Kante schiebt, dann in die Hocke geht und sich schwungvoll nach vorne abschiebt, um mit den ausgestreckten Armen auf der anderen Seite zu landen. Hier gibt es dann glücklicherweise ordentliche Griffe für die Hände, mit denen man die prekäre Lage stabilisiert. Dann kommt der erste Fuß rüber und dann folgt der eigentliche Knackpunkt: Der Rest des Körpers muss rüber an die Wand! Wenn man groß ist, hat man noch Spielraum in den Knien, um sich abzustoßen. Bei überschaubaren 1,65 Meter Körpergröße war da bei mir nicht mehr viel zu holen, so dass ich mich eigentlich nur fallen lassen und auf die Armkraft vertrauen konnte. Das hat mit einem kurzen Schreckmoment auch ganz gut geklappt und dann stand ich sicher an der Wand. Der Rest der Route bis zum Gipfel ist übrigens auch noch ganz unterhaltsam und beinhaltet einen Quergang und einen Riss. Daran kann ich mich aber nur noch ganz dunkel erinnern, weil ich nach dem erfolgreichen Überfall leicht euphorisiert war.
Der Überfall auf die Lokomotive lohnt sich, das hat richtig Spaß gemacht. Viel kleiner möchte ich dafür allerdings nicht sein, sonst wird nämlich glatt ein Sprung daraus. Obwohl mir berichtet wurde, dass auch schon Menschen mit geringerer Körpergröße als meiner das Problem im Vorstieg bewältigt haben, werde ich darauf sicherlich gerne verzichten und den Größeren den Vortritt lassen 😉 Entscheidend für den Erfolg ist übrigens tatsächlich die Geschwindigkeit: Wenn man anfängt, auf dem Poller nachzudenken, hat man schon halb verloren. Hochsteigen, hinhocken, abstoßen und los – dann hat man eh keine Wahl mehr außer Weitermachen. Im Nachstieg kann auch wirklich nichts passieren, das Seil kommt ja von oben. Im schlimmsten Fall knallt man etwas unsanft gegen die Felswand und macht keine gute Figur vor den Zuschauern, die sich mit relativ großer Wahrscheinlichkeit unten versammelt haben. Die sind übrigens auch nur mäßig hilfreich, wenn im entscheidenden Moment ein Kommentar zu hören ist wie: „Und jetzt ist der Moment, wo sie den Griff nicht bekommt und gleich abrutscht!“ 😉
Auch an dieser Stelle nochmal danke für Vorsteiger Olaf, der auch schon über den Überfall gebloggt hat und an Janina fürs Abdrücken im richtigen Moment!